Die Idee einer europäischen, neutralen Dateninfrastruktur ist gut und notwendig. Mit ihr könnten Unternehmen sehr leicht Daten austauschen und Anbieter kompatible, standardisierte Cloud-Services aufbauen. Mit dieser Infrastruktur im Rücken könnten europäische Anbieter den amerikanisch dominierten Hyperscalern etwas entgegensetzen, auch dann, wenn die Funktionalität ihrer Services am Anfang nicht auf dem gleichen Niveau sein kann, wie das der US-Anbieter, die ihr Geschäft bekanntlich teilweise seit zehn Jahren und länger betreiben.
Die Chance, per Standard dem Vendor-Lockin quasi per Definition zu entgehen ist das eine, die politische Notwendigkeit zur größeren digitalen Souveränität wie GAIA X sie verspricht, ist in Zeiten schwächer werdender internationaler Bündnisse eine andere. Europa kann und darf nicht davon ausgehen, dass US-amerikanische oder chinesische Anbieter die Interessen unserer Unternehmen mit dem gleichen Nachdruck verfolgen (oder verfolgen dürfen) wie die der heimischen Companies. Außerdem lassen Gesetze wie der Patriot oder Cloud-Act und auf chinesischer Seite das Internet Sicherheitsgesetz im Zweifel zu, dass Kundendaten von den Behörden eingesehen werden dürfen. Das kann Industriespionage Vorschub leisten.
Umsetzung sehr komplex
Deshalb ergibt eine souveräne, digitale Dateninfrastruktur großen Sinn. Dass sich das federführende Bundeswirtschaftsministerium diese Infrastruktur föderativ vorstellt, also als lose gekoppeltes Netzwerk verschiedener Anbieter, die auf die gleichen Standards und Regularien setzen, macht die Idee noch besser, aber auch komplexer umzusetzen.
Betrachtet man die ersten Aussagen zu GAIA-X und das vom Bundesministerium vorgelegte Strategiepapier unterscheidet sich das Projekt einerseits gravierend von anderen deutschen Technologie-Initiativen und Projekten der vergangenen Jahre: GAIA-X tritt nicht an, eine neue Technologie zu entwickeln, sondern es soll vorhandene Technologien und Standards (zum Beispiel den International Data Space) nutzen, um für Deutschland und Europa eine neutrale Dateninfrastruktur aufzubauen und Angebote verschiedener Cloud-Anbieter problemlos nutzen und wechseln zu können.
Auf der anderen Seite weist GAIA-X aber auch Ähnlichkeiten mit anderen deutschen Projekten auf. Es ist komplex, es ziehen (noch) nicht alle Beteiligten an einem Strang und die Mittel (Technologie), mit denen das Ziel erreicht werden soll, sind noch nicht im Detail vorgestellt. Außerdem ist GAIA-X wieder ein defensiver Move. Die Deutschen und Eurpopäer wollen die Vormachtstellung der Hyperscaler in Sachen Cloud brechen, es ist wieder kein offensives Projekt, mit dem sich Europa digital einen Vorsprung verschaffen will, es soll ein Defizit ausgeglichen werden. Das ist an sich noch nichts schlechtes: Auch das mobile Betriebssystem „android“ war ein definsiver Schritt von Google, um Apples Siegezug zu bremsen und sehen Sie, was daraus geworden ist.
Gefahr der Irrelevanz
Die Komplexität von GAIA-X lässt sich nicht leugnen. Obwohl Minister Altmaier gern schon in der 1. Hälfte 2020 eine Organisation gegründet haben möchte, die für die Umsetzung verantwortlich sein soll, dürfte schon dieser Meilenstein extrem schwer zu realisieren sein – vor allem dann, wenn nicht nur deutsche Unternehmen involviert sein sollen. GAIA-X kann an dieser Stelle das gleiche Schicksal erleben wie viele andere Konsortien, die einen Standard schaffen wollen oder einen Standard zum Durchbruch verhelfen wollen: Sie brauchen einfach zu lange, um sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Das war in der Vergangenheit immer mehr als genug Zeit für andere Anbieter, sogenannte „Industriestandards“ zu verankern. Das hat nichts mit einem geregelten Standardisierungsprozess zu tun, sondern ist einfach eine Defacto-Norm, die durch Marktdominanz entsteht. Angesichts des Vorsprungs von AWS, Alibaba, Microsoft oder Google könnte das GAIA-X sehr schnell aufs Abstellgleis führen. Die Anwender haben einfach nicht genügend Zeit zu warten, bis die Konsortialteilnehmer einen gemeinsamen Nenner gefunden haben.
Der Anwender muss im Mittelpunkt stehen
Als ein weiteres erhebliches Manko am GAIA-X-Konzept könnte sich die mangelnde Einbindung von Anwenderunternehmen erweisen. Die bisher an der Initiative beteiligten Unternehmen und Verbände sind in erster Linie Anbieter und Anbietervertreter sowie Unternehmen, die zum Beispiel Industrie 4.0 oder IoT-Plattformen betreiben bzw. planen. Auch sie müssen zum erweiterten Kreis der Anbieterunternehmen gezählt werden. Da GAIA-X in erster Linie eine Infrastruktur und Standardisierung des Datenaustausches darstellen und kein eigener Cloud-Provider sein soll, der Cloud-Services anbietet, sondern die Grundlage dafür stellen soll, stehen und fallen die Erfolgsaussichten der Dateninfrastruktur mit der Akzeptanz der Nutzer. Diese nicht in den Mittelpunkt der Bemühungen zu stellen, könnte sich als fataler Konstruktionsfehler von GAIA-X herausstellen.
Deshalb empfiehlt VOICE dringend folgende Maßnahmen:
- Die Bedürfnisse der Anwenderunternehmen über die Vermeidung des Vendor-Lockin hinaus in den Mittelpunkt von GAIA-X zu stellen.
- Schnell klare Entscheidungs- und Führungsstrukturen für GAIA-X zu etablieren, die eine zügige Standard- und Normungsentwicklung erlauben.
- Möglichst schnell eine technische Roadmap zu entwickeln, die es Anbietern möglich macht, sich zu beteiligen und Cloud- sowie Edge-Services auf dieser Basis anzubieten.
- Schnell beispielhafte, relevante, einfach zu nutzende und für sehr viele Anwenderunternehmen nutzbare Services auf Basis von GAIA-X-Standards entwickeln und auf den Markt bringen.